Hooksiel (28. 3. 20203) – Gibt es so etwas wie eine Mutter eines ganzen Dorfes? Im übertragenen Sinne schon. Und in Hooksiel trägt sie einen Namen: Hildburg Reiners. Einen Großteil der seit Jahren in Hooksiel lebenden Frauen und Männer hat sie schon als Kinder im Spielkreis betreut. Und deren Kinder wiederum lernen inzwischen bei „Hilli“ reiten.
Hildburg Reiners ist sportlich, drahtig, meist gut gelaunt und immer für einen lockeren Spruch gut. Wenn die Mutter von zwei erwachsenen Kindern mit ihren Enkelkindern und ein paar Hunden durch den Ort zieht, muss sie gefühlte alle zehn Meter jemanden grüßen. Als gebürtige Hooksielerin kennt sie unheimlich viele Menschen im Ort – vor allem auch junge Menschen.
Die heute 75-Jährige gehörte 1977 zum Kreis der Frauen, die in Hooksiel einen „Spielkreis“ gründeten. Einen Kindergarten gab es damals noch nicht. Als Mutter eines sechsjährigen Mädchens und eines vierjährigen Sohnes übernahm Hildburg Reiners zwei Mal in der Woche für jeweils vier Stunden die Betreuung von einer der beiden je 30-köpfigern Gruppen. Eine erzieherische Ausbildung hatte sie nicht. Aber viel Liebe für Kinder, die – so ihre Überzeugung bis heute – auch einmal ein strenges Wort brauchen, wenn sie Grenzen überschreiten. „An der Liebe ändert das nichts.“
Mit 13 Jahren auf Brötchentour zu den Kunden
Hildburg ist eine geborene Schmöckel. Ihre Eltern, wie auch schon ihre Großeltern, betrieben als Bäcker und Konditoren in Hooksiel eine Bäckerei. Das Mädchen wuchs in Hooksiel auf, besuchte hier die Schule und lernte schon mit sechs Jahren ihren späteren Mann Heino kennen. Heino arbeitete später als Bäcker im elterlichen Betrieb, in dem Hildburg ihre Lehre als Einzelhandelskauffrau absolvierte.
Als Lehrling in einem Familienbetrieb hat man es nicht ganz leicht. „Man hat nie Feierabend. Man ist immer da, wenn noch etwas erledigt werden muss. Schon mit 13 Jahren musste ich morgens die Brötchentour übernehmen“, erinnert sich die Seniorin. Auch in ihrer Zeit als Auszubildende hatten die Brötchen oberste Priorität. „Wenn ich mich bei der Tour mal verspätete, verpasste ich meinen Bus zur Berufsschule – dann musste ich da mit dem Fahrrad nach Jever fahren.“ Dafür war die Abschlussprüfung besonders streng. Frei nach dem Motto: „Na ja, du hast ja bei deinen Eltern in der Lehre. Mal sehen, ob du da wirklich etwas gelernt hast …“
Die berufliche Karriere im Familienbetrieb endete, als das die junge Frau gerade 18 Jahre alt war. Die Bäckerei Schmöckel ging Konkurs. „Meine Eltern waren über Nacht verschwunden“, erinnert sich Hildburg Reiners. Damit war auch der Job weg, aber der Weg zur Heirat frei. Heino Reiners wechselte zur Bäckerei Ulfers und heiratete seine Jugendfreundin. Nur aus der erhofften Mitgift von seiner Frau wurde nichts. Deren Familienbesitz kam weitgehend unter den Hammer.
Aus dem Spielkreis in den Kindergarten übernommen
Im Spielkreis wurde „Hilli“ zur Institution. Eine ganze Generation von Hooksielern hat auf ihrem Schoß gesessen, wurde getröstet oder zum Spielen animiert. Der damalige Bürgermeister Dietrich Gabbey sorgte dafür, dass die Spielkreis-Betreuerinnen übernommen wurden, als die die Gemeinde Wangerland um 1990 herum in der „Alten Schule“ einen offiziellen Kindergarten einrichtete. Als „ungelernte Kraft“ musste sich Hildburg Reiners mit ihrem pädagogischen Leitbild im Profi-Team des Kindergartens ihren Platz erst erobern. Ihrem Credo blieb sie treu: „Der Umgang mit Kindern ist eine Herzenssache – aber man muss auch konsequent sein.“
Die Kinder dankten es ihr. Als sie mit 65 Jahren in Ruhestand ging, gab es einen große Abschiedszeremonie. Aber „Hilli“ blieb ihren Kindern treu, arbeitete noch bis 70 als Springer-Kraft und stand darüber hinaus fast täglich am Kindergarten-Zaun, um ein Lächeln zu ergattern.
Vor der Gefahr, in ein emotionales Loch zu fallen, bewahrten die Rentnerin aber ihre Kinder und Enkelkinder – und ihre große Leidenschaft: die Pferde. Dr. Karl-Heinz Gaede, Mitbegründer des Reit- und Fahrvereins Hooksiel, sprach die junge Mutter an, die ihre Tochter Katja regelmäßig zum Reitunterricht begleitete. „Kommen Sie doch zu uns nach Oesterdieken und übernehmen einen Kindergruppe.“ Gesagt getan.
Seit 1988 gehört Hildburg Reiners zum Trainerstab des RuF Hooksiel. Der Verein, mehrfach für seine gute Nachwuchsarbeit ausgezeichnet, bietet ideale Bedingungen – für Reitanfänger ebenso wie für Fortgeschrittene, für Dressur- und für Springreiter. Die Basis dafür legen 13 ehrenamtliche Reitlehrerinnen und Reitlehrer sowie sechs Schulpferde, die den Einstieg in den Sport erleichtern. Sportlicher Höhepunkt in Oesterdieken ist das Großturnier, das der Verein jeweils im Herbst ausgerichtet.
Hildburg Reiners hat selbst nie Turniere geritten. Aber dennoch war der Reitunterricht für Frauen- und Kindergruppen für sie schnell mehr als ein Hobby. Dazu haben auch ihre eigenen Pferde beigetragen – erst Stroma, dann Silas, Bendit und heute Käpt’n. „Hilli“ reitet zwar noch regelmäßig selbst. Aber um Käpt’n, einen Haflinger, fit zu halten, freut sich die Seniorin über die Unterstützung von zwei Reitbeteiligungen.
Angehende Reiter brauchen klare Kommandos
Der Reitunterricht ist das eine. Der Reitstall das andere. Vor allem nach dem Tod ihres Mannes Heino im vergangenen Jahr ist Hildburg Reiners täglich in Oesterdieken, füllt die Getränkebestände auf, fegt durch die Reiterklause oder schaut nach den Schulpferden. Der Plausch mit den Reitern, Reitlehrern und Vorstandsmitgliedern gehört zu ihrem Reiterleben genau so dazu wie die körperliche Anstrengung beim eigenen Ritt durch die Halle.
Als Reitlehrerin steht sie dienstags und mittwochs selbst in der Bahn, hilft kleinen Mädchen beim Satteln oder beim Aufsteigen aufs Pferd – und gibt Kommandos: „Schritt, Trab, Galopp – und jetzt Wechsel durch die ganze Bahn. Zügel kürzer! Achte auf deinen Sitz! Nicht mit den Beinen schlackern! Auf dem Zirkel geritten …“ Beobachtet wird das Ganze von der Tribüne aus von den Müttern der Reitanfänger, von denen viele „Hilli“ noch aus dem Spielkreis kennen – mit ähnlich konsequenten Kommandos. Und mit viel Herz. Und niemand zweifelt, wenn Hildburg Reiners feststellt: „Neben meinen Enkelkindern ist der Reitstall mein Ein und Alles.“